Um Perspektiven zu gewinnen, ist eine Verbindung von Rückschau, Sicht der Gegenwart und Blick in die Zukunft wichtig. Dies gilt auch und gerade für die Ökumene. In drei Abschnitten möchte ich dies streiflichtartig versuchen.
1. Bei der Rückschau wäre katholischerseits das Zweite Vatikanische Konzil zu nennen, dessen Abschluss vor 40 Jahren kürzlich wieder verstärkt in den Blick gerückt ist. Es war ein „ökumenisches“ Konzil nicht nur im ursprünglichen kirchlichen Sinn, dass es die Bischöfe des ganzen Erdkreises versammelt hat. Es gewann seine noch umfassendere ökumenische Bedeutung durch die Anwesenheit zahlreicher Beobachter aus verschiedenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften sowie die Impulse für die Einheit der Christen, die von dieser Kirchenversammlung ausgingen. Grundlage dafür ist ein zentraler Gedanke, der sich im Kirchenverständnis des Konzils ausdrückt. Zusammen mit den Bezeichnungen „Mysterium“ und „Volk Gottes“ wird das Wort „Communio“ besonders häufig gebraucht. Das Wort wäre missverstanden, wenn man darunter einzig und allein eine Gemeinschaft von Menschen verstehen würde. Kirche als Gemeinschaft hat ihre Grundlage im letzten vielmehr darin, dass Gott in sich – als Vater, Sohn und Geist – selbst Gemeinschaft ist und dieses Leben durch die Kirche der ganzen Welt mitteilen will. Diesem universalen Gemeinschaftsgedanken widersprechen jedoch die Risse und Spaltungen in der Geschichte des christlichen Glaubens. Das Konzil hat sich neu darauf besonnen, dass das Mühen um die sichtbare Einheit aller Christen nichts Beliebiges darstellt, sondern letztlich ein Ernstmachen mit der Lebensform Gottes selbst darstellt und dem Willen Jesu entspricht, „dass alle eins seien, ... damit die Welt glaubt“ (Joh 17,21f). Ein zentraler Gedanke des Ökumenismusdekrets macht dabei deutlich, dass christliche Wiedervereinigung nicht in einer Rückkehr der getrennten Kirchen und Gemeinschaften zur römisch-katholischen Kirche bestehen kann, sondern dass es um die gemeinsame Suche nach der Wahrheit des Glaubens geht, die im Leben ihre Bewährung zeigt (vgl. UR 1). Dabei muss eines klar sein: Ökumene kann nicht nach dem Prinzip eines Gewinn- und Verlustgeschäftes betrieben werden, bei dem nach dem Modell von Tarifverhandlungen jede Seite etwas gibt und nimmt. Sie ist nur tragfähig, wenn sie als gemeinsames Wachstum zur Fülle und als gegenseitige Hilfe verstanden wird (Kardinal Walter Kasper). Dazu kommt, dass sich im nachkonziliaren ökumenischen Gespräch die Einsicht vertieft hat, dass eine tragfähige Versöhnung der Kirchen nur möglich ist, wenn man die Sendung Israels neu als gemeinsamen Wurzelgrund entdeckt. Ein solcher Weg mag manchmal mühsam sein, aber es gibt keine Alternative dazu, wie Papst Johannes Paul II. immer wieder betont hat. „Wiedervereinigung ist Weitervereinigung“, sagt unser früherer Diözesanbischof Paul-Werner Scheele immer wieder. Das Erbe des Konzils verpflichtet uns; bereits erreichte Schritte wie die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre von Katholiken und Lutheranern von 1999 können dabei Mut machen.
2. Beim Blick auf die Gegenwart fällt auf, dass die Ökumene mit gebremster Geschwindigkeit vorangeht oder dass sie wie ein Motor wirkt, der ins Stottern geraten ist. Ich zitiere als Beispiel eine Äußerung des evangelisch-lutherischen Landesbischofs Johannes Friedrich vom Anfang des Jahres: Die schnellen Fortschritte der vergangenen 40 Jahre könnten nicht in dem Tempo weitergehen. Man sei jetzt bei Kernpunkten angelangt, die sicher einen langen Atem und viel Gesprächsbereitschaft auf beiden Seiten erfordern würden (KNA Bayern Nr. 4/2006, S.2). Dazu scheint zu passen, dass in letzter Zeit häufig das Wort von einer „Ökumene der Profile“ gebraucht wird. Verbirgt sich dahinter die berechtigte Sorge um Identität im Dialog oder eine versteckte Resignation, die wieder mehr auf Abgrenzung als auf Gemeinsamkeit setzt? Einer solchen Tendenz könnte man nicht scharf genug widersprechen. Ich spreche lieber von einer „profilierten Ökumene“, bei der ein Wachsen in der Erkenntnis von Wahrheit sich verbindet mit der Treue zu gewachsenen Einsichten und der Offenheit für bereichernde Stärken der anderen Kirche. Der Wuppertaler Exeget Thomas Söding geht diese Aufgabe in einem kürzlich erschienenen Beitrag für das katholisch-evangelische Verhältnis von der Frage an, ob die verbliebenen Unterschiede nur eine Last seien, eine Spannung, die man aushalten muss, oder ob in ihnen nicht auch die Chance für eine „Ökumene der Stärken“ liegen könne, in der man sich aus unterschiedlicher Perspektive dabei hilft, das Evangelium als zentralen Lebensmaßstab neu zu entdecken. Ich will hier nur einen Abschnitt zitieren, weil er für unser Gespräch anregend sein kann (Herder-Korrespondenz 60/2006, 14): „Vieles – von dem zu selten gesprochen wird – ist leicht als Stärke zu erkennen. Über die Bedeutung der Caritas, der Bildung, der religiösen Kultur, des Betens braucht, Gott sei Dank, nicht gestritten zu werden. Die – dramatisch abbröckelnde – katholische Tradition des sonntäglichen Kirchgangs: Soll sie auf evangelischer Seite wirklich kritisiert werden, weil sie nicht immer ganz freiwillig war? Die – leider Gottes gleichfalls zurückgehende – evangelische Tradition des persönlichen und gemeindlichen Bibellesens: Soll sie auf katholischer Seite wirklich kritisiert werden, weil sie zuweilen zum Biblizismus führte? Welcher Katholik will die Ohren vor der evangelischen Kirchenmusik von Johann Sebastian Bach verstopfen? Welcher Protestant die Augen vor Raffaels römischen Engeln verschließen? Hat nicht die evangelische Theologie ein ganz starkes Sensorium für die Gewissensfreiheit? Und die katholische für die Gemeinschaft des Glaubens? Ist die Vielfalt evangelischer Denominationen für Katholiken nur Wirrnis? Und das römische Zentrum für Evangelische nur eine Kommandozentrale?
Nicht immer ist die Sache klar. Wenn es an die Substanz geht, wird es ernst. Was die einen als Stärke sehen, werden anderen als Schwäche auslegen, und umgekehrt. Aber der anderen Kirche zu sagen, was man selbst – auf der einen und der anderen Seite – als stark beurteilt, verändert nicht nur das Klima der Diskussion; es verringert die Gefahr der Selbstbespiegelung und erhöht die Chance, die Aufgabe des Glaubenszeugnisses in Wort und Tat besser zu erfüllen.“
Eine solche „Ökumene der Stärken“ schließt durchaus Kritik ein und ist kein oberflächliches Harmonisieren. Aber sie macht Ernst mit der Einsicht, dass Ökumene kein Selbstzweck ist, sondern hingeordnet auf die gemeinsame Sendung, die Mission aller Christen.
3. Als Zukunftsperspektive habe ich mir persönlich schon seit längerem ein Wort von Roger Schutz gewählt: „Unser ökumenisches Denken braucht noch weit mehr als bisher die Prägung durch katholische Weite, evangelische Tiefe und orthodoxe Dynamik.“ Nur dieses Wissen um die gegenseitige Verwiesenheit bewahrt uns vor einem Ghettodenken. Für meine Position möchte ich mich darauf beschränken, anzudeuten, was unter dem Wort „katholische Weite“ zu verstehen ist: Der Begriff sollte in Zukunft mehr und mehr von einer (neo-)konfessionellen Engführung (und seinem Missbrauch als Kampfbegriff) weg auf seine ursprüngliche und auf eine erneuerte Bedeutung hin aufgebrochen werden.
- In seiner ursprünglichen Bedeutung heißt „katholikos“ nichts anderes als „weltweit“. Das bedeutet: Christsein ist nichts Sektenhaftes und Provinzielles; was wahr ist, gilt überall – aus der Universalität des christlichen Glaubens begründet sich auch der recht verstandene Missionsauftrag.
-Die ursprüngliche Bedeutung von „katholisch“ hat jedoch nicht bloß eine umfassend geographische, sondern auch eine universal-geschichtliche Bedeutung, die es gegen eine bloße Reduzierung des Glaubens auf den jeweiligen Augenblick zu entdecken gilt; besonders dem jetzigen Papst Benedikt XVI. ist diese Dimension ein Anliegen: Katholisch bedeutet, dass die Kirche der ganzen Welt, also allen Kulturen und Zeiten zugehört – was einschließt, dass stets alle – auch die Verstorbenen – zu dieser ganzen Kirche dazugehören. Die Kirche gibt ihnen eine Stimme, indem sie die alten Schriften liest und die Traditionen schöpferisch weiterträgt. Hier liegt der Ansatz für ein erweitertes Traditionsverständnis, das sich fundamental von einem pseudohistorischen Beharren auf einzelnen Geschichtsphasen unterscheidet.
Über die geographische und geschichtliche Bedeutung hinaus gibt es noch die soziale und psychologische Dynamik in der Bedeutung des Wortes „katholisch“; Kyrill von Jerusalem beschreibt dies im vierten Jahrhundert so: „Die Kirche wird katholisch genannt, weil sie alle Gattungen der Menschen im Gottesdienst vereint, die Fürsten wie die Privatleute, die Gelehrten wie die Ungebildeten; und schließlich, weil sie jede Art von Sünden, die Seele und Leib durchdringen, behandelt und heilt.“ Diesen ganzheitlich-therapeutischen Ansatz im Verständnis von „katholisch“ wiederzuentdecken, halte ich ebenfalls für eine wichtige Aufgabe der Zukunft.
Eine zukunftsweisende erneuerte Bedeutung des Wortes „katholisch“ im ökumenischen Dialog sehe ich weiterhin im Aufzeigen neuer Horizonte, die als noch unentdeckte Perspektiven darin enthalten sind. Ich greife hier einen Gedanken aus einem der letzten Hefte von „Christ in der Gegenwart“ (Nr. 3/2006, S. 196) heraus, der mich sehr nachdenklich gemacht hat. Dort wird – sicher auch im Anschluss an Teilhard de Chardin die Frage gestellt: „Was zum Beispiel ist am christlichen Glauben katholisch – sakramental – allumfassend im Blick auf die Weiten der Evolution, der belebten wie der unbelebten Materie, der Dimensionen von Zeit und Raum? Was heißt ‚katholisch’ kosmisch zum Beispiel angesichts der atemberaubend revolutionären Erkenntnisse ... von Physik, Biomedizin und Hirnforschung? ... Die Schöpfung mit der Kreatur seufzt hoffend auf die Rettung durch Gott. ... In allem kann Gott selber durchscheinen, der Gott alles in allem. Das ‚Katholische’ ist auch das Umfassend-Sakramentale, letzten Endes Gott selbst.“
Ich bin sicher, dass sich ähnliche Vertiefungen und Perspektiven über konfessionelle Verengungen hinaus auch im Blick auf das Verständnis von „evangelisch“ und „orthodox“ gewinnen lassen. Man darf dabei allerdings nicht der „Versuchung des leichteren Weges“ erliegen, die ein um die Ökumene so verdienter Mann wie Bischof Alfons Nossol von Oppeln so skizziert hat: „Es ist leichter, bloß römisch als umfassend katholisch zu sein. Es ist einfacher, nur protestantisch zu sein als tief aus dem Evangelium zu leben. Und es ist leichter, nationale Interessen mit dem orthodoxen Glauben zu legitimieren als sich seiner grenzüberschreitenden Dynamik zu öffnen.“ Versuchen wir miteinander, das Erbe zu bewahren, indem wir uns in gemeinsamen Herausforderungen bewähren. Dann ist mir um die Ökumene im 21. Jahrhundert nicht bange.
(0506/0161)